Tom Crean – Abenteurer, Held der Süd-Polarexpeditionen Scotts und Shackletons. Eine Rezension für Krautjunker.com
Buchvorstellung von Reiner Grundmann
Schon in meiner Jugend fielen mir in der Stadtbücherei der kleinen Industriestadt Röthenbach an der Pegnitz nicht nur Bücher über die Luftfahrt in die Hände, sondern auch über die zahlenmäßig überschaubaren Polarforscher und Eroberer der Zeit. Eine Handvoll, mehr sind es wohl nicht. Das missing link – eine Querverbindung zwischen Luftfahrt und Polarforschung – fand ich seinerzeit in Umberto Nobile, sein Schiff war jedoch ein Luftschiff, die Norge und fuhr zum Nordpol. Die Schilderungen und Beschreibungen ihrer Reisen, ihrer Schiffe, ihrer Mannschaften und ihrer Schicksale – waren ein gefundenes Fressen für meinen Wissensdurst.
KRAUTJUNKER hat mir ein Buch zur Verfügung gestellt, das noch einmal geballt diese Erinnerungen wachruft, an Scott, Evans, Shackleton, Markham und nicht zuletzt am Rande auch an den Erstbezwinger und Entdecker einer Route durch ewigen Schnee und Eis zum Südpol in der Antarktis: Roald Amundsen mit seinem Schiff Fram (…wer Pinguine sieht, ist in der Antarktis. Verbeißt sich ein Eisbär im Oberschenkel, so darf der Gebissene sich in der Nordpolarregion wähnen).
In dieser Biografie geht es jedoch nicht um die Helden, größtenteils mit Offiziers- oder sogar Adelstitel dekoriert, die wir kennen. Es geht um den eigentlichen Helden, einen einfachen Marinesoldaten mit Mannschaftsdienstgrad.
Tom Crean, wurde 1877 in Annascaul geboren auf der irischen Halbinsel Dingle in Irland in der Grafschaft Kerry, wo heute noch die Kneipe, die er South Pole Inn taufte, betrieben wird. Das Haus erwarb Tom, Ehemann einer Jugendfreundin und Vater von zwei Töchtern, von der Heuer seiner letzten Polarexpedition.
Der in London aufgewachsene Autor des Buches, Michael Smith ist erst Jahrzehnte später geboren worden, hat sich jedoch mit Literatur über die Polarforschung einen Namen gemacht. Zunächst zweimal als Industrial Journalist of the Year 1982 und 1987 mit einem Award ausgestattet – widmete er sich später den kältesten Regionen der Erde und ihrer glücklichen oder unglücklichen Erforscher.
An Unsung Hero – Tom Crean ist dabei sein erster Titel, den er zu dem Thema herausbrachte.
Es war ein bemerkenswerter Erfolg, als er es erstmalig im Jahr 2000 publizierte und das bestverkaufte Buch des Genres Dokumentation und Geschichte. Die Biographie war verantwortlich für ein steigendes Bewusstsein der Rolle, die Iren in der Geschichte der Polarforschung innehatten.

Sehr früh meldete Tom Crean, Kind einer kinderreichen Familie, sich zur Royal Navy. Das war seine Chance, der Ländlichkeit und Einfachheit Annascauls zu entfliehen. Da er bei der Aufnahme in die Navy im Juli 1893 das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, bleibt anzunehmen, dass er die Papiere gefälscht oder geflunkert hat, was sein wahres Alter betraf. Die Geschichten, die in den Kneipen und Bars und auf den Märkten seines Heimatortes über das Leben auf See und bei der Marine erzählt wurden, erschienen ihm derart verlockend, dass er dem Ruf zur See folgte. Michael Smith beschreibt die Stimmung auf den Märkten wie folgt:
»Glücksräder, Stände, an welchen Plunder und Tand verkauft wurden, Frauen im Sonntagsstaat, Männer, deren Kleidung die Anzahl der Jahre wiedergab, die sie in der Fremde zugebracht hatten, Hütchenspieler, Bänkelsänger, Musikanten, Kuppler, Krämer und Bettler – in der Summe eine bunte Mischung von Menschen aus allen sozialen Schichten ebenso wie Gelegenheit für ein gutes Geschäft.
…
In den Kneipen und an den Straßenecken machten Geschichten die Runde, wie unter Iren üblich, alte Anekdoten ausgegraben und in neuer Form erzählt – für die Fantasie eines jungen Bauernsohnes eine wahre Fundgrube.«
Betrachtet man seine Karriere bei der Royal Navy, so war sein erstes Schiff im Jahr 1893 das Trainingsschiff HMS Impregnable, stationiert auf der Marinebasis Devonport in Plymouth.
Im Laufe der Jahre folgten Abkommandierungen auf die HMS Devastation, die HMS Wild Swan; die HMS Vivid; die HMS Northampton, um nur einige zu nennen. Einzig negativ bekannt geworden sind Einträge über ihn, die jedoch bei Landgang auf nahezu jeden Matrosen der Navy zutreffen hätten können – der Alkohol war ein weit verbreitetes Problem, vor allem für einen geselligen und lustigen Burschen wie Crean.
Irgendwann war Crean auch derart ernüchtert vom Dienst, der noch auf Admiral Nelsons Prinzipien aus der Zeit Queen Victorias basierte, und welcher von absolutem strikten Gehorsam gegenüber Offizieren und dem Adel und von Unerbittlichkeit geprägt war, dass er seinen Abschied einreichen wollte.
»Ein Autor behauptet gar, dass Crean unter dem schlechten Essen und der spartanischen Unterbringung derart litt, dass er mit dem Gedanken spielte, zu desertieren.«
Im Februar 1900 sollte der mittlerweile zum Obermaat beförderte 20jährige Crean auf einen vor Neuseeland liegenden Torpedokreuzer mit dem ungewöhnlichen Namen HMS Ringarooma abkommandiert werden. Im Jahr 1901 starb Queen Victoria nach gut 63 Jahren Herrschaft auf dem englischen Thron. Im gleichen Jahr startete Robert Falcon Scott den ersten Versuch, den letzten unerforschten Kontinent der Erde für Großbritannien zu erschließen: Antarktika. Durchmesser 4.500 Kilometer, Temperaturen im Maximum bis zu minus 89,6 Grad/Celsius, 70 % des gesamten Süßwasservorkommens sind dort als Eis gespeichert. Damals menschenleer, nur von ein oder zwei Walfangstationen ist im Buch die Rede. Niemand also, den man um Rat fragen könnte, wie es sich auf dem eisigen Kontinent überleben ließe.
Ein beim ersten planmäßig angelegten Unternehmen die Antarktis zu bereisen sehr engagierter Mann war Sir Clements Markham. Jahrzehnte vor Scott kam er jedoch nicht weiter als bis zum sogenannten Rossmeer. Allerdings war es auch nicht sein erklärtes Ziel, den Pol zu erreichen.
Eine Zufallsbegegnung in London führte dazu, dass Markham Robert Falcon Scott als Anführer und Leiter für die neuerliche Expedition nach Antarktika bestimmte. Er kannte ihn als 16jährigen Marinekadetten von seiner ersten Erkundung im Jahr 1885.

Scott selbst beschreibt die Begegnung in London, in deren Folge er sich zwei Tage später offiziell als Leiter der Expedition bewarb, wie folgt:
»Anfang Juni verbrachte ich ein paar dienstfreie Tage in London, wo ich die Buckingham Road entlangschlenderte, als ich auf der anderen Straßenseite plötzlich Sir Clements entdeckte. Ich begleitete ihn bis nach Hause. An diesem Nachmittag hatte ich zum ersten Mal davon gehört, dass eine Expedition in die Antarktis geplant war.«

Markham war ein sturköpfiger und aufbrausender Mann, der an Winston Churchill denken lässt. Man muss ihn unbedingt erwähnen, denn Scott stützte sich auf Markhams unerschütterliche Prinzipien, dass Expeditionen sich zuvorderst unter die Herrschaft der Royal Navy zu stellen hatten, um der Welt die Unerschrockenheit und Überlegenheit des britischen Königreichs zu demonstrieren.
So sollten sich künftige Expeditionen auch typisch britischer und erprobter Methoden bedienen: von Menschen gezogene Schlitten allen voran. Man muss sich hier vor Augen halten, dass die Schlittenmannschaften Lastschlitten teils bis zu 2.000 km über Wochen durch Schnee, Eis, versteckte Gletscherspalten und instabile Eisschollen zu ziehen hatten. Diese hatten zudem die Angewohnheit mittig durchzureißen, wenn die Temperaturen im Sommer sanken. Hierbei bestand das Risiko, zwischen den driftenden Eisschollen zermalmt zu werden, wenn man zwischen ihnen ins eisige Seewasser fiel. Ein Schicksal, dem Crean einmal nur knapp entging, weil Kameraden ihn geistesgegenwärtig aus einer Spalte zogen.
Das Manövrieren und Ziehen eines 360 kg schweren Schlittens über von Rissen und Spalten durchzogenes Eis ist eine Herausforderung ganz eigener Art und gehört ohnehin zu den strapaziösesten Fortbewegungsarten, die sich auf Erden denken lässt. Bei Temperaturen von minus 40° C, Schneetreiben und starkem Wind, wird es zu einer Tortur. Von Schlittenhunden und Skiern, derer sich der Norweger Roald Amundsen später bedienen würde, hielt Markham absolut nichts – auch wenn Hunde deutlich schneller und ausdauernder waren, notfalls sogar als Nahrung für Mensch und Hund dienen konnten.
An dieser Stelle beschreibt der Autor Michael Smith, über mehrere Seiten die Mühen der Geldbeschaffung für die Expedition, die Suche nach der geeigneten Mannschaft, die Wahl der Ausrüstung und die Arbeiten an dem Expeditionsschiff Discovery, um es für die besonderen Anforderungen der Reise, vor allem bei Berührung mit Eis, und den Fall, dass es im Packeis bis zur Unbeweglichkeit eingefroren sein sollte, belastbar und stabil zu machen.

Am 31 Juli 1901 trat die HMS Discovery nach monatelangen Vorarbeiten und Sondierungen ihre Reise nach Neuseeland an, wo sich auch Tom Crean auf der HMS Ringarooma aufhielt. Die Expedition selbst dauerte bis 1904. Es ist einem Zufall zu verdanken, dass Crean – in den Logbüchern der Ringarooma als Obergefreiter geführt – an Bord der Discovery gelangte.
Bei der Überfahrt von England nach Lyttelton, Neuseeland war ein Crewmitglied der Discovery, Harry J. Baker, wiederholt negativ aufgefallen. Schließlich wurde er für Scott zu einem echten Problem, als er einen Unteroffizier schlug. Dieses und die Tatsache, dass der Vollmatrose Baker auch bei seinen Kameraden sehr unbeliebt war, nötigten Scott ihn zur Ergreifung auszuschreiben, als dieser »getürmt« war und eine Lücke in der Mannschaft hinterließ. Ersatz fand Scott in Tom Crean. Der Hauptfinancier der Discovery-Expedition, die Königliche Geografische Gesellschaft, bewahrt noch heute die Aufzeichnungen Scotts auf, nach welchen Crean am 10. Dezember 1901 zur Besatzung stieß und wo es heißt:
»Mit Billigung des Admirals hat Captain Rich von der Ringarooma mir freundlicherweise einen Mann namens Crean überlassen, der das verlustig gegangene Besatzungsmitglied (Baker) ersetzt.«
Eine Anekdote ist überliefert, nach welcher ein Besatzungsmitglied der Ringarooma gehört haben will, wie Crean sich für den Einsatz auf der Discovery und für die Fahrt nach Antarktika freiwillig meldete. Daraufhin soll er ihn angesprochen und gesagt haben:
»„Ich hätte nicht gedacht, dass du so verrückt bist, freiwillig eine Reise ans andere Ende der Welt mitzumachen.“ Crean soll geantwortet haben: „Ich war ja auch verrückt genug, von der anderen Seite der Welt hierher zu kommen.“«
Auch die Ausfahrt aus dem Hafen von Lyttelton wurde durch den Tod eines Besatzungsmitgliedes überschattet.
Auf Kais und Molen standen begeisterte Menschen dicht gedrängt und jubelten. Die Discovery fuhr, begleitet von den Kriegsschiffen Lizzard und Ringarooma, ein Stück aus dem Hafen hinaus und wohl um besser sehen zu können kletterte der 23jährige Matrose Bonner aus seinem Krähennest auf die Spitze des Großmasts. Ein Besatzungsmitglied, der Matrose Sinclair, hatte ihm vorher eine Flasche Whisky gegeben und er hatte schon stark dem Alkohol zugesprochen. Hoch oben auf dem Flaggenstock sitzend hatte er wie die anderen gewinkt und gejubelt, bis er sich in einem Anflug von Übermut aufrichtete und das Gleichgewicht verlor, als das Schiff in der ersten Welle überholte. Den Flaggenstock noch in der Hand, stürzte er hinab, raste zum Entsetzen seiner Kameraden frei fallend auf sie zu und traf kopfüber die Ecke eines eisernen Deckshauses. Der großzügige Spender des Whiskys raffte daraufhin einige Zivilklamotten zusammen und verschwand.
Der Vorfall deprimierte die Besatzung so nachhaltig, dass sie sich außer Stande sah, Weihnachten auch nur annähernd gebührend zu feiern.
Was bedauerlich ist, ein Weihnachtsessen auf der 2. Scott-Expedition, welche auch als Terra Nova Expedition bekannt wurde, dies war der Name des Schiffes, wird ausgiebig geschildert:
»War Weihnachten etwas Besonderes, so ernährte sich die Besatzung an normalen Tagen fast ausschließlich von Robben-, und Pinguinfleisch, Sardinen und Früchten aus der Dose – bei Amundsen kalkuliert, bei Scott nur im Notfall – vom Fleisch der Schlittenhunde. Später verspeiste man auch Fleisch von russischen Ponys, die als Lastentiere bei der Terra Nova Expedition dabei waren, und die man kurzerhand bei Bedarf erschoss.«
Die Matrosen bastelten aus Skistöcken und Pinguinfedern einen Weihnachtsbaum, den sie mit Kerzen und Wimpeln dekorierten. Den ganzen Tag über wurde Alkohol ausgegeben. Zunächst gab es am Abend dann Robbensuppe gefolgt von einem Lendenbraten mit Yorkshire-Pudding und Meerrettichsauce, Rosenkohl und Kartoffeln. Von einem anderen Weihnachtsessen ist auch Schildkrötensuppe überliefert. Als Dessert wurde eine Auswahl an Minced Pies, Wackelpudding mit Himbeergeschmack, Walnussgebäck, und Karamellbonbons angeboten. Auch ein Grammophon war auf der zweiten Expedition dabei. Ein Geschenk des Herstellers His Masters Voice.

Nach einem Zwischenstopp in Port Chalmers war die Discovery bis oben hin mit Kohle, Proviant und lebendem Vieh bepackt und bot ein Durcheinander, das einem Schiff unwürdig war. Louis Bernardi, der Physiker an Bord, notierte, dass kein Winkel und keine Nische des Schiffes ungenutzt blieb und das Schiff weit unter der sogenannten Freibordmarke im Wasser lag. Niemand an Bord wusste, dass es zweieinhalb Jahre dauern würde, bis die Discovery wieder in Lyttelton fest machen sollte.
»Als Tom Crean im September 1904 zurück in der Zivilisation war, waren seine kühnsten Erwartungen übertroffen worden. Er hatte sich den Ruf eines überaus verlässlichen und wertvollen Mitglieds der Polarexpedition erworben – zu einer Zeit, in der es Klassenunterschiede und die strenge Trennung zwischen Ober- und Unterdeck für einfache Seeleute schwer machten, die Aufmerksamkeit der Offiziere zu erregen, eine wahrlich bemerkenswerte Leistung.«
Selbst in der kleinsten Höhle wurde noch ein Strich am Boden gezogen, um Mannschaften und Offiziere voneinander zu trennen, und auch dass tägliche Deckschrubben wurde den Männern nicht erspart, obwohl das Wasser für die Reinigung des Decks gefror.
Zum ersten Mal in seinem Leben stach der bescheidene Ire aus der Masse heraus. Dass er bei Kameraden und Offizieren gleichermaßen beliebt war, hatte er sich durch seine Einsatzbereitschaft verdient, die es ihm auch ermöglicht hatte, schneller als andere mit den lebensfeindlichen Bedingungen in der Antarktis zu arrangieren.
Eines jedoch hatten alle Männer zu Anfang der Polarexpedition gemein – auch Crean. Das Fehlen jeglicher Polarerfahrung. Auch Scott hatte gelinde gesagt – null Ahnung. Das Einzige, das ihn zum Leiter einer solchen Expedition qualifizierte, war sein Navy-Dienstgrad. Interesse an der Arktis hatte er bis dahin nicht.
Die Briten glaubten, eine unbekannte und menschenfeindliche Region wie die Antarktis bereisen zu können, ohne die Erkenntnisse und Errungenschaften der vergangenen fünfzig Jahre zur Kenntnis zu nehmen.

»Die Discovery lies am 9. Januar 1902 in der Robertson Bay, unweit des Kap Adare, den Anker fallen. Am 3. Februar wurde ein Trupp losgeschickt, der auf Schlitten das Hinterland erkunden sollte. Mit dabei war auch Crean. Neben dem Iren waren auch Armitage, Bernacchi – ein Wissenschaftler – und drei weitere Männer ausgewählt worden, um die nähere Umgebung des Schiffes zu erkunden, insbesondere jenes Gebiet, in welchem das Schelfeis auf Land traf. Die sechs Männer verbrachten eine ungemütliche Nacht in einem Zelt, das für 3 Mann gedacht war, bevor sie am nächsten Tag zur Discovery zurückkehrten.
Trotz der Enge im Zelt hatten die Männer bitter frieren müssen, und so brachten sie die Erkenntnis mit, dass die Temperaturen auf dem Schelfeis deutlich unter denen lagen, die auf dem Schiff herrschten. Bezahlt hatten sie diese Erkenntnis mit einer schmerzhaften Einführung in die Unbilden des arktischen Klimas.«

Sir Joseph Hooker, ein Veteran der Polarforschung hatte Scott geraten, vor Ort mit einem mit Wasserstoff gefüllten Ballon aufzusteigen, um sich einen besseren Überblick die Landschaft verschaffen zu können. Scott machte diesbezüglich selbst den ersten Versuch und wagte den ersten Aufstieg. Dabei wäre er beinahe der erste Mensch geworden, der über der Antarktis abstürzt.
Die ersten 150 m ging es recht gemächlich in die Höhe, dann jedoch entschloss Scott sich, die Sandsäcke abzuwerfen, worauf der Ballon noch mal um gut 100 m in die Höhe schoss. Die Kette an dem Ballonkorb stoppte den rasanten Aufstieg und Scott kehrte gemächlich zur Discovery zurück.
Shackleton, der unbeeindruckt den zweiten Versuch im Anschluss wagte, gelangen die ersten Luftaufnahmen von Antarktika. Der Ballon wies allerdings nach Rückkehr mit Shackleton ein Loch auf, weswegen er nie mehr benutzt wurde.
Am 8. Februar erreichte das Schiff die Einfahrt in den McMurdo Sound im Rossmeer, an dessen Rand des Rossmeer-Schelfeises sich der Vulkan Mount Erebus erhebt. Man entschloss sich, dort das Basis-Lager aufzuschlagen am sogenannten Hut Point. Die ersten Erkundungstrupps errichteten eine Holzhütte.
Entgegen anderer Planungen, die die Rückkehr der Discovery nach Neuseeland vor dem Winter beinhalteten, entschied Scott, dass das Schiff, selbst, wenn es im Winter einfrieren würde, spätestens im Frühjahr flott sein würde. Das war ein Irrtum. Es sollte zwei Jahre dauern, bis das Eis die Discovery aus seinem Klammergriff entließ.
»Die Mannschaft wurde in Gruppen aufgeteilt, die bis zur Erschöpfung arbeiteten, um die Vorräte an Land und in die neu errichtete Hütte zu bringen. Es war eine langwierige und schwere Arbeit, und doch fand sich zwischendurch Zeit für Spaß und Spiel.
Scott notierte: Wenn das Tagwerk vollbracht ist, kommen die Männer auf dem Eis zusammen und spielen Fußball. An Platz für ein Feld mangelt es nicht, und der Schnee ist hart genug, um eine passende Spielfläche abzugeben.
…
Die Ross-Barriere mit nahezu 650 km Länge mit dem Ross-Schelfeis bildet die hoch aufragende und Furcht einflößende, abweisende Pforte zum Transantarktischen Gebirge, das auf das bis zu 3000 Meter hohe Polarplateau zum Südpol führt.«
Als Sir James Clark Ross bereits 60 Jahre früher die Barriere passierte, verglich er die Fahrt mit einer Passage »durch die Klippen von Dover«. Das Eis der Barriere war höher als die Masten seines Schiffes.
Am Beginn der vier Monate währenden Dunkelheit wurde die Discovery mit Eisankern gesichert. Um das Schiff davor zu bewahren, vom Eis zerdrückt zu werden, blieben die Kessel ständig unter Feuer, damit es im Notfall in Sicherheit gebracht werden konnte, so die Theorie. Tatsächlich aber wurde die Discovery vom Eis eingeschlossen und zwei Jahre nicht wieder frei gegeben. Das Winterquartier, umrahmt von einem kleinen Naturhafen mit zahlreichen Wedellrobben, wurde als ideal angesehen.
Das Besatzungsmitglied Wilson sah hierin die Möglichkeit einer steten Versorgung mit frischem Fleisch, verbunden mit der Hoffnung, dies würde dem gefürchteten Skorbut vorbeugen und einen Mangel an Vitamin C verhindern. Jedoch fehlte den Männern frisches Rind- oder Schweinefleisch oder gar Gemüse – weswegen einige der Männer sehr früh erste Anzeichen einer Skorbut-Erkrankung zeigten. Nicht zuletzt auch, weil das Robbenfleisch sehr tranig schmeckte und die Besatzung Roastbeef aus der Dose bevorzugte.
So war die Mannschaft bereits körperlich bereits geschwächt, ehe ihre eigentliche Arbeit auch nur begonnen hatte.
Unweit des Schiffes wurde eine zweite Hütte errichtet, um mit dem blutigen, aber notwendigen Schlachten der Robben und Pinguine zu beginnen. Ein auf allen Expeditionen verspeistes Mahl darf hier nicht unerwähnt bleiben, weil es sehr britisch anmutet, jedoch teils hunderte Meilen fern der Hütten auf Exkursionen und mangels anderer Nahrung täglich in den Zelten zubereitet und verspeist wurde: Hoosh.
Hoosh war auf britischen Antarktisexpeditionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Bezeichnung für Eintopfgerichte mit Suppencharakter.
Um es zu kochen verwendete man zumeist einen Primuskocher. Die Rezeptur eines Hooshs war ganz verschieden, je nachdem welche Zutaten greifbar waren. Zumeist wurde Pemmikan (dem Trockenfleisch der indigenen Völker, bekannt auch als Biltong in Südafrika) mit Wasser aufgekocht und harte Zwiebackstücke hinzugefügt, die mit Gluten verfestigt wurden. Für den besseren Geschmack kochte man auch Speck, Käse, Erbsenmehl, Zucker oder Haferflocken ein. Ebenso waren Rosinen und das Fleisch von Pinguinen, Robben und Ponys mögliche Zutaten. Die Freude an dem Essen wurde jedoch stark getrübt, als die ständig nassen Schlafsäcke aus Rentierfellen anfingen zu verfaulen. Ständig hatte man Rentierhaare im Mund oder im Gesicht. Lästig und eklig war es, sie vor dem Verzehr aus dem Hoosh zu fischen. Trinkwasser gewann man aus geschmolzenem Eis.
Im Vergleich zu Amundsen, der mit seinen Hundgespannen an manchen Tagen in nur fünf Stunden 100 Km zurücklegte, galten bei bis zu 10 Stunden täglichen Dienstes eines britischen Mannes im Schlittengeschirr 25 km als seltener Glücksfall. 20 Kilometer waren das normale Tagespensum.

Der Unterschied im täglichen Fortschritt bei gleichzeitigem Verhältnis der Dienst- und Ruhezeiten im Vergleich war enorm. Auch hatte der Norweger Amundsen jeden Schritt, jedes Ausrüstungsteil und die Verpflegung akribisch geplant. Er und seine Leute waren von jeher geübt im Umgang mit Hundegespannen und Skiern.
Scott zog später in seinem Buch über die Expedition Resumée, das aufgrund der zeitlichen Distanz sehr ehrlich gewesen sein dürfte. Letztendlich lag die Planung eines solchen Unternehmens doch in erster Linie in seiner Verantwortung.
»Zu diesem Zeitpunkt war unsere Unwissenheit beklagenswert groß. Wir wussten nicht, wie viel Proviant für welchen Zeitraum angemessen war, wie die Kocher zu bedienen waren, wie wir die Zelte aufstellen mussten, ja, nicht einmal, wie wir uns anzuziehen hatten. Kein Bestandteil der Ausrüstung war von uns ausprobiert worden und neben unserem Unwissen machte sich das Fehlen jeglichen methodischen Vorgehens besonders schmerzhaft bemerkbar.«
Bei seiner zweiten Expedition halfen ihm auch Motorschlitten nichts, von denen sogar einer im Eismeer versank.
Trotzdem machte sich ein kleiner Trupp von Männern auf den Marsch nach Cap Crozier über etwa 60 km um dort eine Nachricht mit der Position der Discovery zu hinterlegen, denn dort würde im Bedarfsfall eine Suchaktion starten. Als sie ihre Zelte auf dem Weg dorthin aufgebaut hatten, begann ein verheerender Schneesturm und aufgrund der Unerfahrenheit des Trupps gerieten alle in Panik und versuchten zum Basislager an der Ross-Barriere zurückzukehren, statt sich in die Zelte zu verkriechen und den Sturm abzuwarten. Bei der überstürzten Flucht sahen sie nicht, dass sie sich im Schneegestöber längst an einem steilen Abhang befanden, der zu einer Klippe hoch über dem Eiswasser des Rossmeeres führte.
George Vince, ein Matrose, der Fellstiefel, aber weder Nagelsohlen noch moderne Steigeisen trug, glitt an den verdutzten und ohnmächtigen Kameraden vorbei den Abhang hinunter über die Klippe in ein Grab aus Eis. Die anderen Männer konnten nur zusehen, wie er hundert Meter tief senkrecht ins Meer fiel. Sein Leichnam wurde nie gefunden.
Zum Schluss dieser kleinen Einführung, welche dem geballten Wissen und den vielfältigen Abenteuern auf drei Südpolarexpeditionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Person des unbesungenen Helden Tom Crean auf über 400 Seiten des Buches bei weitem nicht gerecht werden kann, will ich noch zwei Anekdoten erzählen. Tom Creans hervorragender Ruf wurde vor allem begründet durch seinen unerschütterlichen Optimismus und seine Fähigkeit auch in der scheinbar schlimmsten Situation noch Kraft zu ziehen und die Kameraden wie auch Vorgesetzte mitzureißen. Immer blieb er auf wundersame Weis gesund und unverletzt, während andere aus seiner Gruppe von Skorbut geschwächt zusammenbrachen, teils über hunderte Meilen von ihm gerettet und zurück in weniger lebensfeindliche Regionen oder in ein wärmendes Zelt gezogen und in ärztliche Obhut gebracht werden mussten. Überhaupt schien Tom Crean gegen alle möglichen Unbilden gewappnet zu sein, obwohl er die gleiche Zeit bei unzureichender Nahrung und Vitaminversorgung seinen strapaziösen Dienst tat. So blieb er von den Anzeichen des gefürchteten Skorbut völlig unberührt, während seine Kameraden darniederlagen. Notfalls brach Crean allein zu mehrtägigen Wanderungen auf, um unter extremen Witterungsbedingungen Hilfe für havarierte oder verunglückte Polarstürmer zu holen.
Er fuhr mit zwei Kameraden über 100 Stundenkilometern auf einem Schlitten über einen kilometerlangen Gletscher hinunter, nicht wissend, was ihn am Ende der Schussfahrt erwarten würde – eine Eiswand, eine Klippe, oder eine Schlucht – lachend, jauchzend und mit tränennassen Augen vor Begeisterung. Er überwand Spalten im Eis oder durchquerte in einem schlichten Ruderboot mit zwei Kameraden einen halben Ozean, um in einer Walfangstation einen Rettungsdampfer zu mobilisieren für 22 Mann, welche an einer fernen Küste in einer winzigen Höhle um das Überleben kämpften. Manche erfroren sich Zehen oder den ganzen Fuß – wenngleich Creans Füße im Alter schwarz waren, so musste ihm doch nie auch nur ein Körperglied entfernt werden.
Er überlebte die Eishölle, aus welcher Robert Falcon Scott zu einem späteren Zeitpunkt niemals zurückkehrte, mit ihm viele weitere Männer, die das gleiche Schicksal ereilte.

Mit der folgenden letzten Anekdote schließe ich hochzufrieden meine Rezession über das Buch Der stille Held – Tom Crean: Überlebender der Antarktis von Michael Smith.
Frank Debenham vom Scott Polar Research Team schenkte ihm folgende Widmung:
»Er stellte seine Heldentaten stets so dar, dass es klang, als habe er sich nur aus allem, was nach Schwierigkeiten aussah, herausgehalten, und alles, was ich ihm entlocken konnte, war der Satz: „Ach, ich bin einfach weitergegangen, so schnell es ging. Die Orcas waren keine sonderlich angenehme Gesellschaft.“«
Crean spricht von »einfach weitergegangen«, meint aber eine hochgefährliche Flucht vom Eis über unzusammenhängende, wackelige Eisschollen, die von Schwertwalen umzingelt waren. bekannt dafür, dass sie auch Boote von unten spielerisch anheben, auf der Terra-Nova-Expedition in den Jahren 1910 bis 1914 unter Scott. Tatsächlich sang Crean nahezu in jeder Situation vor sich hin, beim Reparieren der Schlafsäcke aus Rentierleder, beim Ziehen der Schlitten, auch in extrem gefährlichen Situationen und man sah ihn kaum ohne seine Tabakpfeife.«
Ich möchte dieses literarische Werk in meiner Sammlung nicht missen, und es hat mich tief in philosophische Gedanken über Thomas Crean, über seine Bescheidenheit, seine Leidensfähigkeit und seinen Optimismus verwickelt. Der Leser schöpft aus seiner Kraft und genauso ging es seinen Kameraden, von welchen ihm viele ihr Leben verdankten.
Nach Thomas Crean sind auch heute noch der Mount Crean in der Antarktis sowie auf Südgeorgien im Südatlantik der Crean Lake und der Crean Gletscher benannt, nebst einer Biersorte – das Crean´s der Dingle Brewing Company, Irland.
Seinen Lebensabend verbrachte Crean in Annascaul als Ehemann, Kneipenwirt im South Pole Inn und als Vater zweier Töchter.

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PRESSESTIMMEN
„[Smith] schreibt spannend und mitreißend. Die Kälte des Schelfeises wird so spürbar, der Hunger, die Erschöpfung.“
– Deutschlandfunk Kultur
„Eine unglaubliche Rechercheleistung, packender als jeder Krimi, der Leser stapft förmlich neben Crean durchs Eis. Was für ein Buch!“
– Landeszeitung Lüneburger Heide
„Ein atmosphärisch dichtes, durchweg packendes Roman-Denkmal“
– 07 Das Stadtmagazin
„In [einer] idyllischen Ecke Irlands startet der britische Autor Michael Smith seine Reise zu den Schrecken des Eises und der Finsternis: Kenntnis- und detailreich erzählt er die Geschichte von Tom Crean […]: Jeder vom Polvirus befallene Leser kann nun der Kälte, den Entbehrungen und vor allem dem Überlebenswillen Creans nachspüren.“
– Der Sonntag
„Auf 464 Seiten reales Abenteuer mit einem Spannungsbogen, der bis zur letzten Seite hält. Fabelhaft!“
– TALL-SHIPnews
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Verlagsinformation über den Autor

Michael Smith, geboren 1946 in London, begann nach einer Karriere als preisgekrönter Journalist, über die Erforschung der Antarktis und der Arktis zu schreiben. Er wurde zweimal zum Industrial Journalist of the Year ernannt. Heute ist er für verschiedene Fernseh- und Radiodokumentationskanäle tätig und hält Vorträge über die Polarforschung.
Besucht Reiners Blog! https://theflyingfish.blog/
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Anmerkungen

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Titel: Der stille Held – Tom Crean: Überlebender der Antarktis
Autor: Michael Smith
Übersetzung: Rudolf Mast
Verlag: Mare Verlag
Verlagslink: https://www.mare.de/der-stille-held-8657
ISBN: 978-3-86648-657-
Reiner Grundmann

Geflogen ist er eigentlich überall. Europa, Russland, USA. Wo er hingekommen ist hat er, wie die alten Chinesen – alles probiert und gegessen, was essbar aussah. Roten Kaviar und Sprotten in St. Petersburg, Kottlett Kiew in der Ukraine, Knoblauchhuhn und Gambas al Ajillo in Barcelona, Dorade aus der Salzkruste in Marseille, Marzipantörtchen am Flugplatz Bigginhill in London, Lobster in Santa Barbara und Vitello Tonnato in Mailand. Und gekocht hat er irgendwie auch schon immer.
Seine ersten Rezepte stammten aus dem Roman um den Geheimagenten wider Willen Thomas Lieven, alias Jean Leblanc, alias Pierre Hunebelle, Es muss nicht immer Kaviar sein von Johannes Mario Simmel.
Reiners Motto lautet: „Reisender, wenn du nach Franken kommst wisse, dass du nicht mehr in Deutschland bist – aber auch noch nicht in Bayern!
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